ELVIRA REITH     Deutschlandmeditation 2.0   Kassel, Hanau, Halle[1]

Installation im Raum K49 in Köln-Bayenthal, Goltsteinstr. 49             10. – 14. Nov. 2021

Elvira Reith lebt und arbeitet in Köln.

Zur Zeit zeigt die Künstlerin Elvira Reith ihre dreiteilige Installation mit dem Titel Deutschlandmeditation 2.0 in einem ehemaligen Ladengeschäft im Süden von Köln, in einem Raum, der neben anderen Nutzungsmöglichkeiten auch als Ausstellungsraum fungieren kann. Durch den Blick in das Schaufenster können sowohl die täglich vorbeigehenden Menschen angezogen werden und sich zu einer näheren Betrachtung der Installation hineingezogen fühlen, oder eben die Menschen, die diese Ausstellung bewusst aufsuchen, in der Begegnung mit Elvira Reiths Installation in ein Wahrnehmungsfeld eintreten, das sich aus der inzwischen über 30 Jahre währenden Arbeit der Künstlerin entwickelt hat, die künstlerische Sensibilität und eine politische Dimensionierung[2] der Kunst vernetzt.

Die Installation besteht aus drei langen, von Hand zusammengenähten Bahnen aus durchscheinender, leichter Seide, auf die mit Tusche und Pinsel der QR-Code des Wortes Deutschlandmeditation 2.0 lasierend von Hand aufgebracht wurde. Über diese malerisch-graphische Situation, die minimalistische Züge trägt, hat die Künstlerin mit einer mechanischen Schreibmaschine ausgesuchte Texte mit journalistischen und poetischen Darstellungen zu den „tragischen Ereignissen“ (Elvira Reith) der letzten zwei Jahre in Kassel (2019), Halle (2019) und Hanau (2020) geschrieben. Aufgrund des geringen Helligkeitskontrastes zwischen den Tuschefeldern und der schwarzen Tinte des Farbbandes der Schreibmaschine erkennt man von weitem zunächst nicht, dass dort Informationen und Botschaften auf der Oberfläche der Seidenbahnen gespeichert sind. Tritt man jedoch näher heran, erschließt sich die durchscheinende Schwärze der Tusche als Aufbewahrungsfeld für Berichte und Aussagen über die rechtsextremistischen Anschläge auf in Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund, wobei der Täter von Hanau auch seine Mutter und schließlich sich selbst vernichtete. Bei dem Anschlag auf die Synagoge von Halle wurden durch das Verhalten eines anderen Täters 68 Menschen mit dem Tode bedroht, Juden, die am Jom Kippur 2019, nach jüdischer Zeitrechnung im Jahr 5782, in der Synagoge von Halle versammelt waren, und an der Synagoge vorbeigehende Passanten. Die Künstlerin betont: „Draußen hat der Täter außerdem eine Frau und dann einen jungen Mann in einem Imbiss erschossen.“ Das dritte tragische Ereignis, auf das sich Elvira Reiths derzeitige Installation bezieht, handelt von dem tödlichen Anschlag auf den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, im Jahr 2019, der sich unter anderem für Flüchtlinge einsetzte.

Elvira Reith bewegt angesichts der gewaltsamen Ereignisse eine unaussprechbare, tiefe Trauer, die sie in Form ihrer neuen Arbeit mitteilen will. Dabei bezieht sich diese Arbeit auf ihre früheren Installationen, etwa die erste Deutschlandmeditation Resource und Politics aus dem Jahr 1998, die Arbeit Ich habe meinen Nächsten verbrannt, von der Künstlerin als Bodenmosaik angelegt, das sich in einer fragenden Konfrontation mit den deutsch-deutschen Veränderungen, dem menschlichen und geistigen Zustand des wiedervereinigten Deutschland nach 1989 auseinandersetzt, und die Arbeit Halbmast, beide aus dem Jahr 1992. Sie beziehen sich auf die fremdenfeindlichen Brandanschläge in dieser Zeit. Aus Elvira Reiths Sicht braucht es meditative Energien[3], um die Tragweite der negativen Ereignisse überhaupt wahrnehmen und ein Bewusstsein für ihre inhumanen Absolutheitsansprüche entwickeln zu können.

Seide, Tusche, Papier, Kohle, Wachs, Farben, Blattgold und andere fragile Materialien wie Äste, Zweige, auch Ton und anderes versinnlichen die Sensibilität, mit der die Künstlerin den Ereignissen gegenübertritt. Der Schwere des Inhaltes setzt sie eine empfindungsnahe, fragile Materialität entgegen, um in dieser extremen ästhetischen Spannung zu einem meditativ, empathisch und denkerisch aufgeladenen Prozess der Auseinandersetzung aufzufordern. Von diesem Prozess können sich die Betrachter nicht ausklammern, weil sonst die künstlerische Intention einer umfassenden und tiefgehenden Infragestellung menschlicher Verhaltensweisen keine Chance auf eine Verwirklichung hätte. Mit maschinenbeschriebenen Seidenbahnen gegen die Gewalt fremdenfeindlichen Denkens und Verhaltens anzutreten, mag kurzzeitig an Don Quichote erinnern, zeugt dann jedoch von einem ausgedehnten und ausdauernden Mut, die journalistische Berichterstattung noch einmal zu wenden, um das Erleben der Menschen jenseits von Versachlichung und Gleichgültigkeit anzusprechen zu können. Mit Blick auf die digitale Welt transformieren die zugrundeliegenden QR-Codes den Erlebnisgehalt einerseits in eine Verschlüsselung, die für vernetzte Kommunikationsflüsse steht, andererseits setzen sie ihnen eine analoge, maschinengeschriebene Wirklichkeit entgegen, die akribisch jeden Buchstaben überdenkt, der zur Beleuchtung der Ereignisse dienen soll.

DR. MARIETTA FRANKE, im September 2021/Copyright. Hinweis: Jedwede Verwendung des Textes in Teilen oder im Ganzen ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Autorin und der Künstlerin möglich.


[1] Gefördert mit Mitteln des Künstlerstipendiums „Auf geht’s!“ des NRW-Kulturstärkungsfonds

[2] Vgl. Monographie über Elvira Reiths künstlerische Arbeit: Marietta Franke, Elvira Reith, Künstlerische Sensibilität und politische Dimensionierung, Köln 2011

[3] Vgl. dazu auch die Installation World Wide Med (1996) mit Feng Shui-Kompass (1988)

Deutschlandmeditation 2.0 Kassel, Halle, Hanau

oder die Grautöne der Gegenwart

Installation von Elvira Reith 2021

 

Verwendete Texte: 

 

Kassel:

Wikipedia  Walter Lübcke, Stand: 21.5.2021

 https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_L%C3%BCbcke

 

Mord an Walter Lübcke (2019), Stand: 21.5.2021

https://de.wikipedia.org/wiki/Mordfall_Walter_L%C3%BCbcke

Zitat aus : Welt.de Artikel vom 22.6.2019 von  Jan-Friedrich Funk, Kirchentag in Essen

https://www.welt.de/politik/deutschland/article195715397/Angela-Merkel-warnt-nach-Luebcke-Mord-vor-Verlust-der-Glaubwuerdigkeit.html

Halle:

Wikipedia Anschlag in Halle (Saale) 2019, Stand: 21.5.2021

https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Halle_(Saale)_2019

Zitat aus dem Jahresbericht Bundesverband RIAS e.V. „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020“ (Auszug), Hrsg. Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. RIAS)

https://www.report-antisemitism.de/bundesverband-rias

 

Hanau:

Wikipedia: Anschlag in Hanau 2020, Stand: 21.5.2021

https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Hanau_2020

Zitat aus:

Andreas Zick, Beate Küpper (Hrsg), Verlag J.H.W. Dietz 2021,  Die geforderte Mitte

daraus „Politische Bildung als Transmitter der Demokratie: Demokratie muss man machen – Neun Appelle zur politischen Bildung“ (Auszug)  von Sabine Achour

Zitate aus dem Buch

Texte nach Hanau mit freundlicher Genehmigung von

2020 Stolzeaugen.books Köln www.stolzeaugen-books.de

Vorwort von Serpil Temiz-Unvar

generation shisha bar, von Inès Lamari

Nordpol von Miedya Mahmod

Hanau ist kein fremdes Land von Özge Jacobsen

Baba von Darya Mohammad-Hadi

Es hätte auch ich sein können von Ezgi Kizilocak

„Solidarität und Einsatz für Menschenrechte statt Wut und Angst“ Rede, 21.02.2020 von

Behshid Najafi

Randvoll von Loubna Khaddaj